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Selbstliebe - das neue Ding der Selbstoptimierung.

"Du kannst alles erreichen - finde das richtige Mindset!!"

"Zelebriere deine Selbstliebe, feire deinen Körper wie einen Tempel."

"Mit diesen 10 einfachen Tipps wirst du glücklich und erfolgreich."

 

Mensch Leute, ich bekomme schon beim Tippen dieser Sätze Schnappatmung und schlechte Laune! Früher gab es auf Instagram nur Millionen Tipps für den perfekten Body und das perfekte Mindset. Die Schönste sein, der Stärkste, die Erfolgreichste, der Charismatischte, die Reichste oder der Geilste.
Jetzt hat sich herumgesprochen, dass wir alle nur ganz normale Menschen sind mit normalen Körpern, manche sind dünn, manche sind dick, manche sind klug, manche sind doof, manche sind liebenswert und manche sind langweilig.
Normal geht aber nicht für Instagram. Deshalb muss normal jetzt auch wieder optimiert werden. Und deshalb muss ich meinen Körper lieben und wie einen Tempel feiern, hingerissen von mir sein. Das muss ich mir bei jedem Blick in den Spiegel sagen oder natürlich auf Instagram, mit diesem hübschen Herzchen Filter und Geigenklängen im Hintergrund. Klar, weil ohne Filter und Musik gehts ja nicht.

Himmel Herrgott! Schon wieder dieser Optimierungsdruck! 😡

Es reicht nicht, einverstanden meinem Körper zu sein – ich muss ihn lieben.

(Es reicht im übrigen auch nicht meine Kunden zu mögen – auch die muss ich lieben.)

Es gibt Stellen meines Körpers, die ich ganz zauberhaft und wunderschön finde, zum Beispiel meine Augen und meine Haare. Und es gibt Stellen, die ich ziemlich hässlich finde, zum Beispiel meine Füße. Und dass es völlig o. k. so. Ich bin einverstanden mit meinem Körper, unterm Strich im Frieden mit ihm.

Manchmal gehe ich wahnsinnig streng mit mir und meinem Körper um, schimpfe wie ein Rohrspatz, weil ich in den letzten Jahren dermaßen unbeweglich, ungelenk und auch dicker geworden bin. (Ja, du hast richtig gelesen - nicht mollig oder vollschlank!). Und dann gibt es wieder Tage, an dem ich genau deshalb mit meinem Körper sanft und liebevoll umgehe

und ihn motiviere, mit ganz ganz kleinen Schritten ein bisschen beweglicher zu werden. Mehr nicht. Das reicht. Und dann schaue ich in den Spiegel, stehe schon gleich ein wenig aufrechter, mit hoch erhobenem Blick da, schau mich an und find mich ziemlich schön.

 

Und dann dieses Glücksdings! Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr mir das inzwischen zum Hals raushängt. Ich kenne einige Therapeuten, die haben seit einigen Jahren mehr und mehr Klient:innen, die quasi "Glücks-Ratgeber geschädigt" sind. Da gibt es nämlich Millionen Bücher, Videos und Podcasts, wo du „ganz einfach“ lernen kannst, glücklich zu sein. Und wenn du nicht damit schaffst, bist du wohl ein besonders schwerer Fall und brauchst noch viele teure Seminare vom Experten.

Und viele lesen viele Bücher und geben viel Geld für ihr Glück aus ... und sind blöderweise immer noch nicht glücklich. Und dann geht es ihnen schlechter als zuvor, weil Hopfen und Malz bei ihnen verloren scheint und dann gehen sie Therapie.

Mir geht diese Hybris, dieser größenwahnsinnige Anspruch, dass jeder immer glücklich sein kann, sehr auf die Nerven. Ja, welch Hybris!
Glück ist für mich der Augenblick, der mir geschenkt wird, unvorbereitet und unvermutet: der traumhaft schöne Sonnenuntergang, das gelungene Mal, der entzückende Liebesbrief, dass Kinderlachen, die frische salzige Luft am Meer, der freie Blick zum Horizont.

Geht nicht eine Nummer kleiner? Zufrieden sein. Reicht das nicht erst mal? An meine Zufriedenheit kann ich arbeiten, dafür kann ich mir Inspiration holen, meine Ansprüche anpassen auf ein reales Maß, mich weiter entwickeln und jeden Tag ein klein bisschen zufriedener werden.
Und ich kann mehr Demut walten lassen.

Weil nämlich nicht immer alles Superduper oder Easypeasy ist. Weil das Leben manchmal einfach Scheisse ist, irre anstrengend, unfair, brutal, freudlos, grau und schmerzhaft. So ist eben das Leben. Normal halt.

Normal ist so herzerfrischend normal!!

So unspektakulär.

Normal ist normal und nicht selbst optimiert, normal ist normal und nicht gephotoshopter Hochglanz, normal ist nicht verabscheuungswürdiges Mittelmaß, sondern tiefe Verbundenheit mit ganz vielen anderen normalen Menschen – du bist nicht allein!


Normal ist Käsebrot statt drei Sterne Menü – einfach köstlich! Normal ist vielleicht Gala lesen statt Goethe, hin und wieder spazieren gehen statt für den Marathon zu trainieren, manchmal Tiefkühlpizza essen statt jeden Tag gesund zu kochen, Rosamunde Pilcher Filme schauen statt Arte und Phoenix. Normal ist einfach mal sitzen und dumm gucken statt ständig kluge Podcasts zu hören oder Bücher zu lesen, normal ist einfach einen guten Job zu haben und nicht gleich die alles erfüllende Berufung zu finden.
Normal ist einverstanden mit mir zu sein, ohne mich gleich ganz dolle zu lieben. Normal ist einzigartig zu sein, und manchmal ganz unspektakulär und unscheinbar.

Normal eben.

Reicht das nicht?

Fühlt sich normal sein nicht eigentlich ungeheuer entlastend an?

Atmest du nicht in Wirklichkeit auf, wenn du einfach normal sein darfst?