Eine Zumutung.

***Update einige Tage später: Liebe Menschen, es geht mir besser. Es fühlt sich gut an, den Text geschrieben zu haben. Viele schreiben mir, dass ich Ihnen sogar ein Vorbild bin darin, sich ehrlich zu zeigen, offen über Krisen zu sprechen. Viele taten mir soo sehr gut, indem sie mir einfach ihr großes Mitgefühl und ihre Erschütterung aussprachen, mir ihre eigene Geschichte erzählten. Sie sprechen mir ohne Floskeln echten Mut zu, sie betonen, dass die Welt mich braucht. Sie sagen, dass sie mir gerne zuhören und geben mir ihre Telefonnummer.

 

Sie sind da für mich. Ich bin nicht allein.

 

Ich bin ruhiger. Ich bin zuversichtlicher. Danke!

 

Liebe Menschen da draußen,

 

Ich kann nicht mehr.

 

(Bitte keine Angst haben: Ich bin NICHT suizid gefährdet!!)

 

Ich bin noch nicht mal mehr in der Lage, diese Zeilen zu schreiben. Seit ich mir vor zwei Jahren meinen Arm mehrfach gebrochen habe und deshalb nicht schreiben konnte, habe ich eine Software, der ich gerade mein Leid diktier. Hilfreiche Technik. Auch wenn vielleicht mehr Rechtschreibfehler im Text sein werden als sonst.

 

Wo soll ich anfangen? Ich kann diese Worte nicht strukturieren, ich kann keinen roten Faden wohl überlegt diktieren. Ich bin so unendlich leer, mein Kopf ist gähnend leer und dramatisch überfüllt zugleich, mein Herz, meine Seele haben Schmerzen . Ich bin gleichzeitig wahnsinnig aufgeregt und unendlich erschöpft, geradezu bis zum Durchdrehen durcheinander und Ver-rückt und zutiefst depressiv. Still.

 Ich saß gerade stundenlang in meinem kleinen Bad auf dem Fußboden, der Raum in meiner Wohnung, indem es 100-prozentig dunkel ist. Ich brauchte die totale Dunkelheit, die absolute Schwärze um mich herum. Ich weinte und weinte und war gleichzeitig total ruhig.

 

Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie ich einst, genauer gesagt in der Nacht vom ersten auf den 2. Dezember 1985 völlig zusammengebrochen auf einer kalten Treppe saß, mit dem größten Schmerz in meiner Seele, den ich in meinem 20-jährigen Leben jemals gefühlt habe.

Die Rettungssanitäter fuhren gerade wieder weg, der Notarzt stellte den Totenschein aus: vor einer halben Stunde war meine Mutter gestorben.

 

Sie hatte einen ihrer vielen vielen Asthmaanfälle nicht überlebt bzw. hat ihr krankes Herz die große Anstrengung des Asthmaanfälle nicht überstanden. Es war eine Situation, wie ich sie so oft schon erlebt hatte. Mitten in der Nacht kam das Asthma und meine Mutter rief nach mir. Ich ging schlaftrunken die Treppe hinunter in ihr Schlafzimmer und rief wie üblich unseren Hausarzt an. So oft hatte ich dies schon erlebt, es war fast Alltag. Ich wusste, der Doktor wird in der nächsten halben Stunde hier sein, meiner Mutter drei Spritzen gegen das Asthma geben, dann warten wir ungefähr 1 Stunde an Mamisbett und dann wird der Anfall vorbei sein und ich werde wieder schlafen gehen.

 

 Ich saß am Fußende von Mamis Bett, abwartend und halb im Schlaf, als der mir so vertraute Arzt plötzlich laut scheiße rief, die Spritze wegschmiss und mit einer Herzdruckmassage begann. Er rief mir zu, ich solle die Rettung alarmieren, ich telefonierte hektisch und wenige Minuten später war der Notarzt da.

 

Und meine Mutter starb Ihnen unter den Händen weg.

 

Ich rannte aus dem Zimmer lief die kalte Steintreppe hinunter und brach auf der Hälfte nach unten zusammen und weinte und weinte und weinte und weinte und schrie und schrie und schrie.

Bis heute weiß ich nicht, ob es mein unser Hausarzt war oder einer der Sanitäter: jedenfalls kniete sich irgendjemand neben mich auf die Treppe und nahm mich gefühlte Stunden lang in den Arm. An das Gefühl seiner Hand auf meinem Rücken erinnere ich mich als ob es gestern war.

 

Ich lebte mit meiner Mutter allein, wir hatten ein geradezu symbiotische Verhältnis, unendlich liebevoll und doch so ungesund, und plötzlich war sie verschwunden. Ich war 20 und allein. Mein Vater lebte nicht bei uns, er war nie eine große Hilfe für mich. Dieser unbekannte Arzt, Sanitäter oder Notarzt, der da auf der Treppe neben mir saß, mit der Hand auf meinem Rücken, mit seiner Wärme und Nähe – gefühlt rettete er mir damals mein Leben.

 

Damit begann mein Erwachsensein. Nein, das stimmt nicht: das begann eigentlich mit elf. Als ich elf war sagt meine Mutter mir: Ach mein liebes, wenn es dich nicht gäbe, wäre ich schon längst nicht mehr am Leben. Dies war also meine Aufgabe: der Lebenssinn meiner Mutter zu sein. Und ich liebte sie so unendlich, und deshalb nahm ich diese Aufgabe ernst und erfüllte sie so gerne.

. Als ich 13 war begannen ihre Asthmaanfälle. Sie war sowieso schon so krank, hatte 2 schwere Herzfehler und starke Osteoporose in den Knochen.  Alle paar Wochen dramatische Nächte, alle paar Monate mehrere Wochen Intensivstation und Krankenhaus.

 

Und ich war das Sonnenscheinchen.

 

Die große Tochter, die eine halbe Krankenschwester war, weil sie sich so gut in Herz- und Asthmamedikamenten auskannte. Die so brave Tochter, die, wenn sie um neun daheim sein wollte, lieber schon um 8:30 Uhr da war. Diese Bettina war wirklich ein Sonnenschein, sie machte keine Probleme, war stark, war für Mami da, half, wo sie kann, war zuverlässig, sie machte soviel mit sich in ihrem Tagebuch aus. In dem steht heute noch, wie sehr ich meine Freundin damals beneidete. Wenn sie mit ihrer Mutter nicht einer Meinung war, konnten sie streiten und Andrea konnte Tür knallend das Haus verlassen. Ich konnte mich nicht streiten mit meiner Mutter und schon gar nicht Tür knallend das Haus verlassen, weil sie 10 Minuten später einen schweren Asthmaanfall bekommen hätte.

 

38 Jahre sind seitdem vergangen. Und gerade in dem dunklen Bad, zusammengekauert auf dem Boden, fühlte ich mich exakt genauso wie damals auf der Treppe, 10 Minuten nach Mamis Tod. Ich habe in all den Jahren so viel erlebt: ich habe studiert, ich bin seit 32 Jahren selbstständig, ich habe mich verliebt, war selig vor Liebesglück und Tod traurig von Liebeskummer.

 Freundschaften begannen, dauerten an und endeten.

Ich fand beruflich schnell meine Berufung, meine Aufgabe auf dieser Welt. Ich fühle mich gesegnet und bin unendlich dankbar, dass ich seit 32 Jahren diese Berufung leben kann, diesen meinen Traumjob habe, diese meine Aufgabe in dieser Welt erfüllen kann.

 

 Ob es nun Seminare sind oder Vorträge, ob es intensive Einzelcoachings sind oder die vielen Stunden, in denen ich meine fünf Bücher geschrieben habe:

 

Ich bin auf dieser Welt, um Menschen zu unterstützen. Um felsenfest daran zu wissen, dass sie alle Ressourcen in sich tragen, um ein gelingendes Leben haben zu können. Ich bin so neugierig auf Menschen, ich interessiere mich zutiefst für sie und ihre Geschichten. Ich bin so dankbar und fühle mich so beschenkt, weil ich in ihrer Seelen schauen darf, weil sie mir vertrauen – weil sie sich mir anvertrauen, sich in meine Hände begeben.

 

Nichts ist in dem Moment wichtiger als dieser Mensch, der mir gegenüber sitzt und aus seinem Leben erzählt. Nichts möchte ich in dem Moment mehr tun, als das, was ich sehr gut kann: Menschen atmen beruhigt aus, wenn sie bei mir sind. Menschen fühlen sich sicher und geborgen bei mir, sie lassen los, so oft kommen Tränen der Erleichterung, des Schmerzes, der Hoffnung. Ich darf ihnen Fragen stellen, die ihnen neue Räume öffnen. Ich darf ihnen Impulse geben, die ihnen ein Licht am Ende des Tunnels sein können. Ich gebe ihnen Liebe, sie vertrauen wieder, sie glauben an sich und daran, dass jetzt alles gut wird.

 

Menschen neuen Lebensmut zu geben, Menschen Lösungen finden zu lassen, Menschen wieder an sich glauben zu lassen, ja, Menschen ein Stück weit erlösen zu können – dies scheint tatsächlich seit dem 17. Februar 1965, dem Tag meiner Geburt, meine Aufgabe hier auf der Welt zu sein.

 

 

Bei all der Verwirrtheit, bei all dem ver-rückt sein im Moment, bei all dem keinen einzigen klaren Gedanken fassen können – der Impuls, diesen Text zu schreiben und später auch überall zu veröffentlichen, war klar und deutlich wie selten.

Und da ich seit Jahren immer und immer wieder vor der Prüfung stehe, meiner Intuition zu vertrauen, muss ich es auch jetzt.

 

Vor einigen Jahren gab es schon einmal einen so klaren, glasklaren alternativlosen Impuls: das war die Nacht, in der mein Blog UNGESCHMINKT entstand, indem ich offen über meine Depressionen spreche. Inzwischen ist er eingebunden auf meiner Website. Viele Jahre schon vorher hatte ich immer wieder den Gedanken:

 

Bettina, leg endlich dein Sonnenscheinchen ab!

 

Sei mutig und zeige dich ungeschminkt, ganz und gar, mit allen Brüchen, Verletzungen, Schmerzen.

 

Ich wusste plötzlich, dass ich das tun muss. Dass es Menschen lesen, hören, wissen müssen – um sich selbst mehr zu zeigen, sich auch zu trauen, ohne Maske da zu stehen. Ich muss das tun, damit soviele andere Menschen sehen: Sie sind nicht allein.

Nach meinem 50. Geburtstag wurde dieser Seelenruf immer lauter: mute dich zu, ganz und gar. Ja, du bist die große und so starke Frau, zu der so viele Menschen aufschauen. Die so viele Menschen bewundern, weil sie so viel geschafft hat in ihrem Leben. Die oft so strahlend schön, charmant, leicht und unbeschwert auf Menschen zugeht. Der sich Menschen so schnell öffnen, so schnell Vertrauen fassen, sich so schnell anvertrauen. Ja, und diese Frau spürte immer mehr, dass es so nicht weitergeht. Dieses „Wenn die wüssten!“ wurde immer lauter in meinem Kopf. Die Depressionen kamen. Die größte Liebe meines Lebens war plötzlich verschwunden über Nacht und nahm all meinen Lebenswillen mit. Und vieles andere passierte mir. Das Leben wurde mir schwerer.

 

Wenn ich jetzt in diesem Moment, in der Nacht vom 17. März 2023 zurückblicke auf mein Leben, war ich schon immer allein. Ja, es gab Männer in meinem Leben, es gab und gibt Freundschaften in meinem Leben, wenig, sehr wenig Freunde, einige Bekannte.

Es gab Zeiten während des Studiums, in denen ich exzessiv lebte. Zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter begann ich mit dem Studium. Und ich holte alles nach, was ich 20 Jahre lang nicht leben durfte, weil ich das Sonnenschein für meine Mutter sein musste. Ich holte das Leben nach, in vollen Zügen. Ich trank viel, ich feierte viel, ich liebte viel, ich lebte viel, exzessiv, lebenshungrig, Wild.

 

 Doch auch da gab es schon, wie mir erst seit einigen Jahren so bewusst ist, tief depressive Phasen. Wo ich stundenlang auf der eiskalten Kellertreppe saß, ohne jegliches Gefühl, ganz ruhig und hundertprozentig davon überzeugt, dass ich nie wieder aufstehen kann. Es gab viele Situationen, in dem ich mich quasi unbewusst, passiv vom Leben verabschieden wollte: Entweder ich trank die halbe Hausbar leer und setzte mich danach ins Auto, um stundenlang durch die Nacht zu fahren. Oder ich bekam bei meinem ersten großen Liebeskummer so hohes Fieber, dass ich bei Freunden im Gästezimmer zwei Wochen mehr tot als lebendig lag. Entweder im 40° Fieberschlaf oder, von Liebeskummer und Schmerz zerfressen, mit dem Kopf gegen die Wand schlagend.

 

Welche Beziehung auch immer zu Menschen mir in den Sinn kommt, ob es Liebespartner waren oder Freunde, ob es Nachbarn waren oder Verwandte: Ja sicher, es gab viele viele sehr intime, sehr nahe und vertraute Momente.

 

Aber eigentlich war ich immer allein.

 

Ich fuhr allein in Urlaub.

Ich entschied mich allein für meine Aus und Weiterbildungen.

Ich begann allein, meiner Lebensaufgabe nachzugehen und meine Berufung zu leben. Ich war so viel für Menschen da, beruflich wie auch privat. Ich schien immer stark, die Frau für Selbstbewusstsein kann schließlich nichts schocken, so viele Menschen verwechseln meine Größe und meine Statur mit Kraft und immerwährender Stärke. Eine große kräftige Frau, ein schönes Weib, das sich zu benehmen und auszudrücken weiß. In den zehn Jahren, in denen ich angehende Coaches in ihrer Ausbildung begleitete, habe ich so oft gehört: Ach Bettina, eigentlich möchte ich genauso wie du werden. Du bist mein großes Vorbild.

 

Ich bin so unendlich gerne für andere da. Ja, es ist nicht selten so so anstrengend. Weil ich in die Tiefe gehe, weil ich kein oberflächliches Larifari Blabla machen möchte, weil ich meine Aufgabe ernst nehme. Weil ich nicht loslasse, weil ich, wenn nötig, sehr radikal sein kann. Weil ich meine ganze Kraft, meine ganze Seele und Liebe zum Menschen darauf verwende, sie zu unterstützen, zu ermutigen, zu entlasten und in ihre Kraft zu bringen.

 

Und jetzt bin ich endgültig fast am Ende meiner Kräfte. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Und jetzt schreibe ich etwas, das mir vielleicht das Genick brechen kann. Das vielleicht dafür sorgt, dass ein für alle Mal mein Ruf als Coach ruiniert ist. Und doch ist das, was ich jetzt zu sagen habe, alternativlos. Weil ich mir geschworen habe, mich ganz und gar zuzumuten und nichts auszulassen.

 

Ich habe also seit 32 Jahren selbstständig gearbeitet, habe mit meiner Selbstständigkeit schon während des Studiums begonnen und nie aufgehört. Ich habe also immer Geld verdient, habe aber vom ersten Moment an immer mal mehr mal weniger aus meinem Erbe meiner Mutter dazu getan. Ich habe ein ganz normales Leben geführt. Bin selten in Urlaub gefahren, habe nie Luxusreisen unternommen, habe mir vielleicht das eine oder andere schöne Schmuckstück geschenkt oder bin gut essen gegangen, habe nie Chanel getragen oder von morgens bis abends Champagne getrunken. Ich habe mein Geld nie aus dem Fenster geschmissen, habe nie exzessiv Geld ausgegeben, habe aber immer ein bisschen von dem Geld im Depot für meinen Lebensunterhalt gebraucht.

Ich habe gut gelebt, habe an Freunde, die es brauchten, großzügig Geld verschenkt oder verliehen, habe Freunde zum Essen eingeladen und habe mir nach dem Studium mehrere große kostspielige Weiterbildungen leisten können.

 

Ja, und ich war naiv.

Ist es naiv – oder war es dumm? Nein, es war unendlich große Naivität und Gedankenlosigkeit.

 

 Und die führte dazu, dass ich mir nie wirklich Gedanken um mein Geld gemacht habe. Ich hatte vertrauensvolle Bankberater, einen enorm kompetenten Anlageberater und habe seit Jahrzehnten einen Steuerberater, der mich gut kennt und die mich zutiefst vertraue.

Ich habe noch nie in meinem Leben eine Steuererklärung selbst gemacht, ich habe mich beraten lassen von Fachleuten und mein Erbe angelegt. Aber all diese Fachleute konnten natürlich eines nicht tun: Entscheidungen treffen, auf mich aufpassen, den Zeigefinger erheben, warnend eingreifen. Das war nicht ihr Job.

 

Dafür waren sie nicht da.

Das hätte ich machen müssen.

Und das habe ich versäumt.

 

 Ich habe gelebt, geliebt, gearbeitet, die Welt entdeckt, mich intensiv mit Menschen beschäftigt, Depressionen bekommen, gelitten, war zerrissen vor Schmerz, war so oft bis ins Mark erschüttert und gleichzeitig taub und Still und dunkel und leer vor Einsamkeit. Ja, natürlich: es gab auch viele gute Zeiten. Sternstunden. Nächtelange Gespräche mit wunderbaren Menschen, großartigen Erkenntnissen oder Himmel hoch jauchzender Glückseligkeit. Es gab viele ausgelassene Abende mit viel Gelächter und gutem Essen und guten Wein, es gab Glücksmomente im Theater und im Konzert, es gab zutiefst glücklich machende Augenblicke in der Natur, wunderschöne Sonnenaufgänge, Stunden, in denen ich nur dem Meer gelauscht habe und schier geplatzt bin vor Glück.

Es gab viele ganz unspektakuläre kleine Glückseligkeiten: Samstage im Sommer, an denen ich zum Markt geradelt bin, mir frisches Gemüse und Obst und einen großen Blumenstrauß kaufte und dann daheim mit der Süddeutschen Zeitung stundenlang gefrühstückt habe. Sonntage im Sommer, in denen ich ganz früh an den See fuhr, um der Sonne entgegen zu schwimmen. Viele Stunden in meinem blauen Lieblingssessel mit einem dicken Buch und einer großen Tasse heißen Tee. Viele viele Stunden der Meditation, in denen ich ganz ruhig und klar und groß und in meinem Mitte war.

 

Ja, es gab auch gute Zeiten, es gibt auch heute noch gute Zeiten und gute Momente. Seit Jahren jedoch beobachte ich, wie es sich irgendwie verkehrt herum anfühlt: es sind keine guten Zeiten, die hin und wieder von schlechten Zeiten unterbrochen werden. Sondern es sind schlechte Zeiten, die hin und wieder Gott sei Dank von guten, leichten, fröhlichen Augenblicken unterbrochen werden, um auszuruhen, um wieder Lebenswillen zu spüren, um zuversichtlich und mutig nach vorne zu blicken.

 

Ich war so oft in meinem Leben dankbar dafür, dass ich das Gefühl von Scham und „es ist mir peinlich“ nicht kenne. Habe so oft entweder im Freundeskreis oder bei Coaching Klienten gesehen, wie schlimm sich Scham anfühlen muss. Und war immer so dankbar, dass ich Scham nicht kenne.

 

Das ist jetzt anders. Auch wenn diese Zeilen alternativlos sind, auch wenn es alternativlos ist, diese Zeilen zu veröffentlichen: ich schäme mich zutiefst. Weil ich es vor lauter Naivität und Gedankenlosigkeit versäumt habe, auf mein Geld zu achten. Weil ich tatsächlich erst jetzt aufgewacht bin. Weil ich erst jetzt sehe:

...

Seit der letzten Zeile ist 1 Stunde vergangen. In Anbetracht dessen, was ich jetzt schreiben werde, verschlug es mir die Sprache. Mein Hals war zugeschnürt, ich bekam kaum Luft, musste aufstehen und bin in meiner Wohnung umhergegangen. Ich habe geweint und geweint und bin förmlich fast erstickt an dem Klose im Hals der mir die Kehle zudrückt. Weil ich es jetzt ausspreche, aussprechen muss, ja: ich muss es aussprechen es führt kein Weg daran vorbei und ich muss es auch veröffentlichen:

 

Ich habe kein Geld mehr.

 

Mein Girokonto ist im minus, kommt in den nächsten Tagen allenfalls auf Null, wenn zwei Rechnungen bezahlt wurden. Auf meinem Zweitkonto sind exakt noch 4000,19 €. Die werden in einem Monat fast komplett drauf gehen, wenn ich meine Quartals Umsatzsteuervoranmeldung einreichen werde. Da seit Corona meine Steuervorauszahlungen auf Null gestellt wurden, habe ich seit zwei Jahren immense Steuernachzahlungen. Das Geld, dass ich mir für die letzte Steuernachzahlung von Freunden leihen musste, zahle ich noch bis Juni zurück. Im Juli oder August werde ich mir erneut Geld leihen müssen von Freunden für die nächste große Steuernachzahlung. Ganz zu schweigen von jeglicher Art von Altersvorsorge, von jedem Notfall, der nicht passieren darf. Ja, ich habe Aufträge – aber nicht genug bzw. mit zu geringen Tagessätzen. Es ist kein Land in Sicht. Konto ein bisschen im Plus, Steuer, Konto im Minus, ein paar Tausend Euro Reserve, dann wieder quasi nichts mehr, dann wieder Steuer, Aufträge, dann muss ich mir ein neues Bett kaufen, weil das alte kaputt ist, Einnahmen, dann muss ich TAusende von Euro Coronahilfe zurückzahlen … ein Teufelskreis, kein Ende.

 

Und gerade jetzt, wo ich alle Hebel in Bewegung setzen müsste, um mein Leben wieder in Griff zu kriegen, gerade jetzt, wo ich kreativ sein müsste, um neue Projekte und Geschäftsideen zu entwickeln, um Geld zu verdienen. Gerade jetzt, wo ich so sehr wie noch nie mein Leben wirklich alternativlos gezwungen wäre, Aktiv zu werden ...

 

Gerade jetzt, genau jetzt bin ich am Ende meiner Kräfte.

 

Wozu das alles? Seit Jahren schon ist mir, wenn ich ehrlich bin, dass WOZU abhandengekommen. Ich lebe allein, habe keine Kinder, keinen Mann, keine Eltern, ich kenne ein paar Menschen in München, die ich hin und wieder sehe, die alle nicht wissen, wie es wirklich in mir aussieht, weil ich ihnen nicht wirklich vertraue, mich nicht zeigen mag. Die drei oder vier echten wirklichen tiefen Freunde und Freundinnen die ich habe, sie leben alle nicht in München.

Ich bin allein. Ich fühle mich so oft komplett unverbunden mit Menschen, mit der Welt. Ich habe mein ganzes Leben alleine Entscheidung getroffen: ich war mit 20 Studentin im ersten Semester und gleichzeitig Haus und Depotbesitzerin. Ich habe mit 23 mein Grundstudium beendet und musste gleichzeitig mit Handwerkern verhandeln die die neue Fassade im Haus eingebaut haben. Ich habe alleine entschieden, in welchen Kinofilm ich gehen will. Ich habe alleine entschieden, wohin ich in Urlaub fahren möchte. Ich habe alleine entschieden, welches Studium ich beginne oder welchen Beruf ich ausüben möchte. Ich habe alleine entschieden wo ich hinziehe. Ich habe alleine entschieden wie ich leben möchte. Ich hab das alles so gut geschafft.

 

Und jetzt fühlt es sich nur noch schwer an.

 

Ich habe Depressionen, bin seit dem Radunfall vor zwei Jahren völlig unsportlich geworden. Spüre die große Unbeweglichkeit in meinem Körper, Kraftlosigkeit, Schmerzen. Werde wahnsinnig bei dem Gedanken, mein Leben lang arbeiten zu müssen, um Geld zu verdienen. Ich bin 58 Jahre alt, in meinem Bekanntenkreis fangen die ersten an, darüber nachzudenken, ob sie in vorzeitigen Ruhestand gehen. Oder ob sie doch noch 5-6 Jahre arbeiten wollen. Sie machen Pläne, sie machen gemeinsame Pläne, wie sie die nächsten Jahre verbringen wollen. Gemeinsam! Sie sprechen miteinander, sie überlegen und entscheiden gemeinsam, sie sind nicht allein.

 

Vielleicht kommt all das bei euch als widerliche schreckliche Jammerei an, als abscheuliches Selbstmitleid. Ja, ich kann gerade nicht anders als mir selbst leid zu tun.

 

 Ich habe keine Kraft mehr, zu entscheiden, was zu tun ist. Ich habe keine Kraft, gegen meine Depression anzugehen. Ich habe keine Kraft und jegliche Fähigkeit verloren, konsequent an neuen Strategien und Strukturen zu arbeiten.

 

Ich kriege hin und wieder Kleinigkeiten gut hin, kriege meine Kräfte noch so gebündelt, dass ich meine Arbeit erledigen kann. Ich bin Gott sei Dank derart professionelll und erfahren, dass ich mich seelisch und mental darauf vorbereiten kann, gute, sehr gute Seminare zu geben oder mitreissende, berührende Vorträge zu halten. Ich bin dazu in der Lage, Videos für die Haufe Akademie über die Seminare zu drehen, die ich dort anbiete. Bin dazu in der Lage, meine Arbeit zu erledigen. Ich kann, zumindest an den meisten Tagen, aufstehen, mich duschen, mich anziehen, einkaufen gehen, Arbeit am Schreibtisch erledigen, telefonieren oder zoomen,  mir Essen  machen, Fernsehen und ins Bett gehen. Aber von sieben Tagen schaffe ich es vier oder fünf Tage nicht, dass der Tag nicht in tiefer Depression, mit großen Ängsten und Verzweiflung endet. Es hat sich in mir noch nie so hoffnungslos an gefühlt. Wie soll ich das alles schaffen?

 

Und dann ist da ja auch noch dieser grausame Antreiber in mir. Diese Stimme, die ich schon immer kenne, und die – schlimmer als strenger Befehlston – mich hämisch auslacht. Die mich hämisch anschaut und sagt: Ja Bettina, so wird das nichts. Vergrab dich nur in deiner scheiß Depression und jammere rum. Stattdessen solltest endlich  deinen Arsch hochheben und arbeiten und Geld verdienen. Dieses Gejammere ist so ekelhaft. Du wirst es nicht schaffen. Die Welt hat echt nicht auf dich gewartet.

 

Zwischendurch ist diese Stimme so dermaßen laut und glaubwürdig, dass ich daran zweifle, ob ich wirklich Depressionen habe. Ja sicher, ich bin seit Jahren in ärztlicher Behandlung und nehme Medikamente, es gibt also ein professionelles Gutachten darüber dass ich Depressionen habe. Aber diese innere Stimme dieser hämische Antreiber lässt mich manchmal zweifeln und will mich glauben machen, dass ich meine Faulheit mit Depression verstecke und entschuldige. Ich weiß, dass es nicht stimmt. Diese Stimme macht alles noch viel schlimmer.

 

Und dann kommt noch dazu, dass diese Welt da draußen immer mehr spinnt. Ich kann mich nicht genügend schützen, daher fahren mir alle Katastrophen direkt in die Seele. All die Naturkatastrophen, all die Schrecklichkeiten, zu denen Menschen fähig sind, all die Verbrechen, all die Dramen …… allzu oft fahren sie mir ungefiltert, ungebremst in mein Herz.

 

Es ist mir ganz ganz wichtig, zu sagen: Macht euch keine Sorgen, ich werde mir mit 100-prozentiger Sicherheit nichts antun. Ich werde nicht im Affekt vor lauter Verzweiflung und Schmerz versuchen, mich umzubringen.

Und das garantiere ich euch!!

 

 

Aber ich denke ganz ruhig und klar und nüchtern darüber nach, welchen Weg ich wählen kann, wenn es wirklich eines Tages zu viel wird. Eines Tages! Nicht heute und nicht morgen und nicht übermorgen. Eines Tages. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ich schließe es nicht aus. Weil es vielleicht, wie alles in meinem Leben, eine Entscheidung sein kann, die ich treffe. Einen Weg, den ich bewusst wähle und bestreite. Der für mich eigentlich ein ganz unspektakulärer und normaler Weg ist, eine ganz normale Möglichkeit neben vielen anderen. Ich kann beschließen, 100 Jahre alt zu werden und das Leben trotzdem noch zu lieben. Ich kann krank werden und irgendwann nur noch palliativ versorgt werden können. Ich kann beschließen, ganz bewusst all meine Kräfte zu bündeln, neue Kräfte zu finden, um noch viele gute Jahre leben zu können in Fülle und in Glück. Und ich kann beschließen, dass es irgendwann nicht mehr geht. Dass ich irgendwann Lebens satt sein werde, dass es dann genug ist und ich in Ruhe und Stille und Frieden gehen möchte. Selbstbestimmt, wie alles in meinem Leben. Das ist dann auch gut und richtig.

 

All das ist Utopie oder zumindest ferne Zukunftsmusik. Jetzt gilt: Ich muss auf die Beine kommen.

 

 

Keine Ahnung, warum meine Intuition so vehement und klar und radikal darauf bestanden hat, diese Zeilen zu schreiben und an euch zu schicken. Ich weiß es nicht. In diesem Augenblick vertraue ich einfach darauf, dass meine Intuition richtig ist. Oder anders ausgedrückt: ich strecke die Waffen, ich leiste meinen inneren Offenbarungseid, ich vertraue mich an in die Hände des Schicksals und tue all dies jetzt, ohne zu wissen, was passieren wird.,

 

In diesem Augenblick, ist es inzwischen 2:30 Uhr in der Nacht, weiß ich nur eins mit aller Ruhe und Klarheit im Herzen: ich muss diese Zeilen schreiben und euch anvertrauen. Ich habe keine Wahl, keine Alternative dazu vor Augen. Ich weiß nicht, was passiert. Es kann sein, dass sich viele irritierte, angewidert, ratlos abwenden. Es kann sein, dass aktuelle Auftraggeber*innen dies lesen und mich erschrocken nie wieder beauftragen werden. Es kann sein, dass ich damit bei vielen unten durch bin. Es kann sein, dass mich viele für hoffnungslos und durchgeknallt halten.

 

Es kann aber auch sein, dass dieser Schritt genau der richtige ist. Es kann sein, dass dieser Hilferuf gehört wird – denn nichts anderes ist es. Ich brauche Hilfe. Und ich ersticke fast, weil ich mich so schäme, das auszusprechen. Es fühlt sich wirklich wie ein Offenbarungseid an. Ich strecke die Waffen. Ich kann nicht mehr.

 

Ich danke euch von ganzem Herzen dafür, bis hier durchgehalten zu haben. Ich danke euch, dass ihr all das gelesen habt. Ich habe mich euch zugemutet, komplett und ganz und gar, ohne Maske, ohne Rolle, als nackter Mensch mit all seinen Ängsten, all seiner Verzweiflung. Ich gehe weiter auf diesem Weg der radikalen Offenheit. Ob er mich nun ins verderben oder in die Lösung führt.

 

Jetzt werde ich schlafen gehen. Ich bin zu Tode erschöpft. Aber auch, ganz im Gegensatz noch zu den Stunden zuvor, ganz friedlich und Still und klar und ruhig. Es fühlt sich richtig an.

 

Ich werde in den nächsten Tagen mein Telefon ausstrecken und mein Handy stumm schalten. Ich werde in den nächsten Tagen auch den Rechner auslassen und keine Mails lesen. Ich werde für mich sorgen, mir Gutes tun, vermutlich viel schlafen und zwischendurch in die Sonne gehen. Am Montag oder Dienstag werde ich mich dieser Welt da draußen wieder stellen, werde ich mein Telefon wieder einstecken, meine Mailbox abhören und meine Mails, SMS, WhatsApp und Kommentare lesen. Und dann wird es weitergehen. Irgendwie. Vielleicht mit eurer Hilfe.

 

Todmüde, zutiefst erschöpft, kraftlos, ziemlich resigniert, ohne wozu und Plan, jedoch von ganzem Herzen und ein bisschen friedlich und ein ganz klein bisschen hoffnungsvoll grüßt euch aus der Nacht in München eure Bettina.