Warum es gut sein kann, wenn es Dir schlecht geht.

Mein operierter Arm war in letzter Zeit zu viel in Bewegung und schmerzte, ich war enorm angestrengt, mein Zug hatte Verspätung und der Taxifahrer verfuhr sich.
Irgendwann kam ich genervt, erschöpft und schlecht gelaunt im Seminarzentrum an. Fast 2 Stunden zu spät. Ich hatte von unterwegs zwar Bescheid gesagt und den Teilnehmerinnen eine Aufgabe gegeben, doch ich war sehr nervös, wer mich erwarten würde.
Weil all das noch nicht reicht, fiel mir auf der Toilette mein Smartphone ins Wasser – es war letztendlich nicht mehr zu retten. 😢

Ich kämpfte mit den Tränen, war verschwitzt und hetzte in den Seminarraum. Am liebsten hätte ich mich heulend in die Ecke gesetzt und wäre danach wieder nach Hause gefahren.

Was macht ein gutes Seminar aus?

Gut durch strukturierte Tage mit klarem Zeitplan, der auf die Minute eingehalten wird?

Ein dickgefülltes, glänzendes Handout?

Ein Seminar, in dem es im perfekten Maße Theorieblöcke, Übungen, Arbeitsblätter und Lernzielkontrollen gibt?

Eine souveräne Trainerin, die sowohl Experten im Fach als auch perfekte Lehrerin ist?

Ja, vielleicht auch. Auf jeden Fall kann mit diesen Zutaten kein ganz schlechtes Seminar herauskommen. Aber was sorgt dafür, dass ein Seminar außergewöhnlich wird, dass die Teilnehmenden noch lange danach darüber reden und daran denken werden?

Nichts von alldem war in dem Seminar vor einigen Tagen gegeben. Im Gegenteil. Die Teilnehmenden mussten 2 Stunden warten und hatten dann eine Trainerin vor sich, der es schlecht ging, die ungeschminkt und mit schlecht sitzenden Haaren verschwitzt vor ihnen stand, die weder Kopf noch Herz noch Lust hatte, dieses Seminar zu halten, die unkonzentriert und fahrig war.

 

Der Supergau also?

Nein. Im Gegenteil.

Am Ende kam ein ungewöhnlich gutes, tiefgehendes und wirksames Seminar dabei heraus. Wie kann das sein?

Ich war nicht die perfekte, souveräne und strahlende Trainerin, die alles weiß und kann. Ich war in diesem Augenblick ganz pur, ungeschminkt und echt. Ich war also ein ganz normaler Mensch. Ein Mensch, der gerade schwach und hilfsbedürftig ist UND gleichzeitig enorm erfahren, voller Wissen und ein guter Coach ist. Die Ambivalenz des Lebens. Nicht entweder oder, sondern beides gleichzeitig.

Dadurch, dass ich dermaßen echt und ungeschminkt war, konnten auch bei den anderen im Raum die Masken fallen und sich die Herzen öffnen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Seminar lange nicht so intensiv und anrührend gewesen wäre, wenn ich einfach „nur“ eine souveräne gute Trainerin gewesen wäre.
Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Pur, echt und ungeschminkt auf der einen Seite – pur, echt und ungeschminkt auf der anderen Seite. Wir kümmerten uns umeinander. Die Teilnehmenden holten mir Wasser, liehen mir ihre Uhr und holten mich vom Hotel ab. Und ich hörte ihnen zu, stellte neue Fragen und unterstützte sie auf ihrem Weg zu mehr Heilung.

Sicher ist dies kein allgemein gültiges Rezept. Für diese zwei Tage jedoch war es für alle Beteiligten ein großes Geschenk. Und es zeigte sich wieder einmal, dass ein Mensch, der sich echt, offen und ungeschminkt zeigt, mehr berühren und bewirken kann als jemand, der sich gephotoshoppt und hochglanzpoliert perfekt gibt.