"Ich kenne mich so gar nicht!" - wenn wir uns in Krisen besser kennenlernen

Ich bin begeisterte Twitterin. Und folge dort unter anderem einem Mann aus HH - nennen wir ihn Oliver. Mitte 50, seit langem in Geschäftsführer- oder Vorstandspositionen tätig, erfolgreich, Frau und Kind und Hund - und er postet meist zauberhaft schöne Fotos von seinen frühen oder abendlichen Gassirunden - Natur, Wasser, Wolken, Farben, schöne Lifestyle Bilder aus seinem Zuhause. Heile Welt. Ich folge ihm gerne, hab den einen oder anderen Tweet direkt schon mit ihm gewechselt.

 

Und gestern war alles anders. Da kommen plötzlich spät abends mehrere Tweets hintereinander, die eine ganz andere Seite von ihm zeigen. Wie er sich große Sorgen um Angehörige macht, wie sehr ihn diese verrückte Zeit wohl doch gebeutelt hat, dass er momentan "dünnhäutig und emotional wie nie" ist, dass er Angst hat und weint.

"...ich kenne mich so gar nicht, bin immer für alle der Starke und komme erstmals auch an eigene Grenzen."

 

Ich wollte ihm schreiben, sah aber dann, dass viele viele andere Twitterer ihm schon schrieben. Aufmunternde Worte - aber auch Mitgefühl und Mitleid. Dann ließ ich es - und schreibe stattdessen diesen Blogartikel.

Das erste, was mir in den Sinn kam, als ich Olivers - wie er es selbst nannte - "outing" las, war: Ein Mensch! Er rückte mir sofort im Herzen deutlich näher als je zuvor - das schöne Lifestyle Bild in leuchtenden Farben wurde auf einmal ganz und gar menschlich, lebendig, warm, zum nachspüren und mitfühlen.

 

Am Morgen danach bedankte er sich für die vielen lieben Nachrichten, sagt, er sei ok und werde uns "heute nicht zutexten, sondern nur das hinterlassen, was wir eigentlich von ihm kennen würden" - und es folgte wieder ein wunderschönes Naturbild.

 

Gut, dass es ihm gut geht! Und schade, dass er die andere Seite wieder verschließt.

 

Es ist selbstverständlich völlig in Ordnung, wenn ein Mensch sein Innerstes, seine Ängste und Sorgen, seine Dünnhäutigkeit nicht in der Öffentlichkeit, nicht auf Twitter, sondern mit seinen Liebsten oder gar ganz mit sich allein ausmacht. Das tun viele. Darüber urteile ich nicht.

 

Oliver, ich möchte Dir nur sagen: Erst durch diese 4 Tweets bist Du für mich wirklich MENSCH geworden, bist Du mir wirklich nahegekommen! Jeder Tweet, jede Zeile, jedes Wort, jeder Artikel von Menschen, die über Dünnhäutigkeit, ihre Ängste, Dramen, Krisen, Verzweiflungen, Depressionen, Krankheiten, Trauer, Tränen schreiben, macht diese Welt ein Stück menschlicher!!

 

Genau deshalb ist ja dieses Blog hier entstanden - weil es mir ein Herzensding ist, mehr darüber zu reden. Nicht voyeuristisch, nicht mit Megafon auf dem Marktplatz. Aber wir müssen (ja, wir MÜSSEN es in diesen seltsamen Zeiten. Unbedingt!!) mehr über all diese Tabuthemen reden. Uns menschlich zeigen.

 

Auch und vielleicht sogar erst recht als Führungskraft!

 

Vor Jahren war ein Abteilungsleiter eines Konzerns bei mir im Coaching - er kam ein paar Mal im Jahr aus FFM zu mir nach München. Wir mochten uns, wir haben toll zusammengearbeitet. Eines Tages kam er mal wieder, hatte große Sorgen, Fusion in der Firma, Mitarbeiter Entlassungen, dazu noch die Krebsdiagnose bei seiner Frau.

Irgendwann in dieser Sitzung fragte ich ihn: "Wissen eigentlich Ihre Mitarbeiter, wie es Ihnen geht?"

Seine Antwort kam mit erstauntem Blick sofort: "Natürlich nicht! Ich bin doch der Chef und muss motivierend und strahlend und stark vorangehen."

 

Weil wir uns so gut kannten, traute ich mich, zu sagen: "Seien Sie mir nicht böse - aber haben Sie mal in den Spiegel gesehen? Sie sehen Scheisse aus. Man sieht Ihnen sehr deutlich an, dass es Ihnen nicht gut geht. Sie sollen sich ja Ihren MA nicht heulend auf den Schoss setzen. Aber mal so ein Halbsatz wie 'Ich hab auch schon mal besser geschlafen* vielleicht? Trauen Sie sich."

 

Er fuhr sehr nachdenklich wieder zurück nach FFM und rief ein paar Wochen später an und berichtete:

" Wir hatten die große Abteilungsrunde und redeten wieder einmal über die großen Veränderungen, die bei uns anstehen, wieviele Mitarbeiter Sorgen hätten. Und da hab ich mich einfach mal mit klopfendem Herzen getraut. Hab gesagt, dass ich echt auch Schiss hab. Ja, genauso hab ichs gesagt. Das bisschen Flapsige musste sein, weil ich wahnsinnig nervös war, was darauf folgen würde. Ob ich jetzt mein Gesicht verlieren würde, obs jetzt aus wär mit meiner Autorität.

Und was soll ich Ihnen sagen: Es war großartig! Zum einen hat es mich ungeheuer erleichtert, mal ein bisschen hinter die Fassade schaun zu lassen. Aber die Reaktionen der Leute war noch unglaublicher: Kaum einer schaute irritiert oder gar ablehnend. Es kamen spontane Äußerungen wie "Wenn selbst SIE ...dann brauch ich mich ja nicht zu verstecken." oder "Oh Gott, das tut so gut, zu sehen, dass Sie auch nur ein Mensch sind."

Es hat mich meinen MA näher gebracht, wir waren wirklich verbunden - und können jetzt zusammen, ein bisschen wie die ängstlichen Hänsel und Gretel Hand in Hand laut pfeifend im Wald, die Probleme angehen. Danke.

 

Mein Mantra, immer und immer wieder, an Euch da draußen - und an Dich, Oliver:

Redet mehr darüber, wie es Euch WIRKLICH geht! Zeigt Euch ein bisschen mehr ganz und gar (bewusst komische Formulierung 😉), holt die gefühlten Millionen Tabuthemen aus der Tabuecke und helft damit anderen, sich auch zu zeigen, nicht mehr zu verstecken.

Machen wir die Welt dadurch menschlicher, nahbarer, echter - weg vom gephotoshoppten, gefilterten, hochglanz-glattgebügeltem "Ois easy" Lifestylebild, wo alle gesund und hip und erfolgreich und fröhlich und ohne Ängste sind.

 

Amen. Das war mein Wort zum Sonntag!

😀😀😘