Sei sanft zu Dir! ⭐

 

Letzte Woche hatte ich mein erstes zweitägiges Präsenzseminar nach meinem Radunfall und der Operation vom Trümmerbruch am Ellbogen. Wie wird es sein, den ganzen Tag lang den Arm nicht hochlegen und kühlen zu können? Wie wird es sein mit meiner großen Erschöpfung und Müdigkeit? Ich war ziemlich ängstlich.

 

 

 

Der erste Seminartag lief gut. Ein Thema, über das wir lange sprachen, war Perfektionismus. Eine junge Frau, sehr bedacht auf Erfolg, Leistung und Selbstoptimierung, erzählte davon, wie sehr sie neben ihrer anspruchsvollen Berufstätigkeit dann auch noch Haushalt und das Bedürfnis nach Sozialkontakten überfordert. Sie möchte nichts davon schleifen lassen, ihr Wunsch sei es, weniger zu tun und damit gelassener umgehen zu können. Sie wisse ja, dass Perfektionismus schädlich sei, könne davon jedoch nicht ablassen. Sie müsse es doch endlich lernen, damit entspannter umgehen zu können. Zwei der anderen Frauen im Seminar erzählten, dass es ihnen mal genauso ging. Und beide erzählten, dass sie sich dann in Absprache mit ihrem Mann eine Putzfrau einmal die Woche geleistet haben. Dies hätte die Situation massiv entspannt – der Haushalt sei kein Gesprächsthema mehr gewesen und sie hätten pro Woche endlich mehr Zeit für sich selbst.

 

Die junge Frau runzelte die Stirn und meinte, dass dies nichts für sie sei. Mit einer Putzfrau würde sie sich nur um das eigentliche Problem herumdrücken. Ihr eigentliches Ziel sei es doch endlich entspannter sein zu können und daran müsse sie arbeiten – dieses waren ihre Worte.

 

 

 

Auf der Heimfahrt beschäftigte mich die junge Frau sehr. Ich brauchte einige Zeit, um zu verstehen, was mich daran nicht losließ. Diese junge Frau hatte sogar den Anspruch, im Unperfekten perfekt zu sein. Selbstoptimierung auch in der Entspannung – da darf man sich nicht helfen lassen von einer Putzfrau.

 

 

Ich war nach dem Seminar sehr erschöpft, freute mich auf Ruhe und meine Couch. Als ich aus dem U-Bahnhof auf die Straße kam, stand ich plötzlich eingekeilt in einer großen Menschenmenge. Ich war noch sehr in Gedanken, war sehr erschrocken und verwirrt, was das alles für Menschen sind. Schützend legte ich meine Jacke über meinen verletzten Arm, es dauerte einige Zeit, bis ich durch die Menschentraube durchkam – es war ein ziemliches Gedränge und Geschubse. Schnell wurde mir klar: ich war das erste Mal in meinem Leben in einer kleinen Querdenker Demo gelandet. Ich hörte jemanden durch ein Megaphon sagen, sie würden sich nicht durch Staat und Polizeigewalt in ihren Rechten beschränken lassen. (Zwei Tage zuvor ging durch die Presse, dass der junge Mitarbeiter einer Tankstelle erschossen wurde von jemandem der nicht ertragen hatte, auf den Maskenzwang hingewiesen zu werden. Diese Nachricht hatte mich ins Mark getroffen.)

 

Sehr zittrig und ziemlich außer Atem kam ich zu Hause an, war froh, in meinem ruhigen sicheren Nest angekommen zu sein.

 

 

Der nächste Morgen. Ich bereitete mich auf den zweiten Seminartag vor. Nach vielen Wochen von „bequemen Schlupfhosen“, die ich gut mit einer Hand anziehen konnte, hatte ich große Lust, endlich mal wieder eine Jeans zu tragen. Mein linker Arm ist mittlerweile ein wenig beweglicher, so konnte ich also die Jeans gut hochziehen. Doch dann war da noch der Reißverschluss und der Knopf. Ich hätte meine Hand so drehen müssen, um den Knopf zu schließen, dass sie massiv schmerzt. Etliche Male versuchte ich es. Es gelang mir nicht. Und ich brach in Tränen aus. Tränen der Wut, der Ungeduld, der Erschöpfung, der Einsamkeit – warum ist da niemand, der mir helfen kann? – bittere Tränen.

Sofort meldete sich der erfahrene, professionelle und wahnsinnig kluge Teil in mir. Er redete beruhigend auf mich ein und meinte: Bettina, hab Geduld, das wird schon. Riskiere nicht die Gesundung deines Armes, bald wirst du die Jeans wieder anziehen können. Dann ziehst du halt noch eine Weile die bequemen Schlupfhosen an – das ist doch völlig unwichtig.

 

 

 

Ich hörte es und konnte doch nicht aufhören zu weinen.

Und dann meldete sich mein Herz.

 

Und mein Herz war plötzlich voller Mitgefühl mit mir. Mein Herz nahm mich in den Arm und sagte: Ja Bettina, das ist jetzt wirklich große Scheisse. Du bist so angestrengt durch die letzten Wochen. Am liebsten würdest du die Seminare absagen – das kannst du aber nicht, weil du Finanzsorgen hast und das Geld brauchst. Ständig sagt dir dein Kopf, stell dich nicht so an, es ist doch schon besser geworden, du kriegst das doch alles schon ganz toll hin. Und manchmal findest du eben, dass du nichts hinkriegst. Manchmal bist du einfach nur schrecklich angestrengt, einsam und ratlos. Manchmal willst du einfach nur, dass es wieder gut ist. Und du hattest gestern einen anstrengenden Tag hinter dir und einen großen Schreck auf dem Heimweg, der dir immer noch in den Knochen steckt. Da ist es doch kein Wunder, dass du in Tränen ausbrichst.

 

Bettina, sei sanft zu dir.

 

 

 

Ich fuhr zum Seminar wir starteten um 9:00 Uhr. Gleich zu Beginn sagte ich der jungen Frau, dass sie mich noch lange beschäftigt hat. Und ich erzählte allen zehn Teilnehmerinnen davon, wie ich morgens weinend, erschöpft, einsam, und sehr wütend auf einen Jeansknopf auf meine Bett saß. Und wie sich dann mein Herz voller Mitgefühl meldete, mich in den Arm nahm und sagte: Bettina sei sanft zu dir.

 

Und ich blickte die junge Frau an und sagte: vielleicht überlegen Sie sich das mit der Putzfrau noch einmal. Seien Sie sanft zu sich, ich bitte Sie.

 

 

 

Es war mucksmäuschenstill im Seminarraum. Dann meldete sich eine Frau, die am ersten Seminartag kaum etwas gesagt hat. Sie hatte Tränen in den Augen und sagte:

Frau Stackelberg, das muss ich Ihnen jetzt ganz ehrlich sagen: ich bin gerade so beeindruckt und berührt von Ihrer Ehrlichkeit, von diesem Mut und dieser Stärke, uns von Ihrer Schwäche zu erzählen. Gestern wirkten Sie auf mich wie so eine wirbelnde Powerfrau, die total erfahren und erfolgreich ist, auf jede Frage eine Antwort hat, 1001 Tipp für uns hat – das hat mich sehr eingeschüchtert. Heute sehe ich den Menschen hinter dieser Power Frau und jetzt kann ich vertrauen und mich öffnen. Danke dafür!

 

 

 

Sei bitte sanft zu dir.